Wie eine Märchenprinzessin steht sie da: die Haare lang und blond, die Beine schlank und glatt, die Nase schmal, die Lippen voll, die Augen grün. Wer könnte sie ignorieren, einfach so an ihr vorübergehen?
Gerade steht sie in Halle 10 der Düsseldorfer Messe und verkauft Parfum. Sie ist jung, erst 21 Jahre, und heißt Isabel Gülck. Gülck wie Glück, nur zwei Buchstaben sind vertauscht. Seit Februar trägt Isabel ein Prädikat: Miss Germany. Dieser Rang ist ein Versprechen – es lautet: Ein Jahr lang bist du die Schönste im ganzen Land. Alle werden dich für deinen Glanz bewundern. Du darfst als Model paradieren, auf roten Teppichen flanieren.
In Halle 10 ist die Auslegware nicht rot, sondern schmuddelig grau mit Kaffeeflecken. Das silberglänzende Abendkleid, das Isabel ihre märchenhafte Aura verleiht, gehört nicht ihr selbst, sondern der Miss Germany Corporation Klemmer GmbH & Co KG. In dieser Robe verkauft Miss Germany Parfum. Ihre Vorgängerin aus dem Jahr 2011 hat die gleichen Flakons auch schon verkauft. Die Prinzessinnen wechseln, der Duft bleibt. »Haben Sie schon mein neues Parfum probiert?«, fragt Isabel all die vorbeiziehenden Besucherinnen, Kosmetikerinnen und Nageldesignerinnen auf der Beauty, der größten Kosmetikmesse Deutschlands. Ihre Frage klingt abgenutzt. Seit sechs Uhr früh ist sie auf den Beinen, jetzt ist es später Nachmittag, ihre Füße sind geschwollen, ihr Magen knurrt. Das Make-up fängt an zu zerfließen.
Acht Stunden lang hat Isabel an diesem Tag ihre Schönheit an ein Parfum verliehen. Am Ende ihrer Schicht zieht sie sich in einem Abstellraum der Messehalle zwischen Saure-Gurken-Gläsern, Buletten und Putzzeug die Schuhe aus und blickt auf ihre Schärpe, die ihr von der Schulter über die Hüfte reicht. »Miss Germany 2012« steht darauf, hinterlegt mit Schwarz-Rot-Gold.
»Ich lebe den Traum aller Mädchen«, sagt sie.
In einer Stunde muss Isabel Gülck den Zug nach Hannover nehmen, dort soll sie eine Misterwahl schmücken. Bis nachts um zwei. In der knappen Zeit, die ihr zwischen den Terminen bleibt, versucht sie ihren Lebensweg aus dem holsteinischen Dorf Horst in diese Düsseldorfer Messehalle zu erklären. Das, was sie »den Traum aller Mädchen« nennt: Um sich diesen Traum zu erfüllen, hat die Tochter einer Friseurin und eines Versicherungskaufmanns lange und hart gekämpft. Die Sehnsucht nach Wertschätzung, die Freude an dem zufälligen Glück, schöner als die anderen zu sein – vermutlich hat Isabels Mutter diese Gefühle geweckt, als sie eine Zusatzausbildung zur Visagistin machte und aus Mangel an Modellen ihre damals zwölfjährige Tochter schminkte. Anschließend machte ein befreundeter Fotograf Aufnahmen von ihr: Isabel als Engel mit halb geöffneten roten Lippen, als sexy Vamp in zerrissenen Jeans. Die Bilder hängen heute noch im Laden der Muter. »Das machst du toll«, sagte der Fotograf. »Was für ein bildschönes Mädchen«, raunten die Kunden. Isabel hörte es und spürte zum ersten Mal: Ich bin etwas Besonderes. Ich werde für mein Aussehen gelobt.
Isabel Gülcks Geschichte ist eine wie keine, und doch ist sie die Geschichte der Frau an sich. Die Frau ist »das schöne Geschlecht«. Ihr Zeichen ist das Venussymbol, weltweit verwendet in der Wissenschaft wie in feministischen Zeitschriften: Der Kreis mit dem angehängten Kreuz stellt den Handspiegel der Venus dar. Immer geht es um die Frage: Sehe ich gut aus? Schönheit – oder eben Nichtschönheit – war immer eine entscheidende Eigenschaft aller Frauen und Mädchen.
Schon Homer erzählt, wie ein zehnjähriger Krieg zwischen Griechen und Trojanern entbrennt, der eine einzige Ursache hat: den Raub der schönsten Frau Griechenlands, Helenas – einer Art antiker Isabel Gülck.
Vielleicht kennt Isabel die uralte Geschichte der Helena nicht, aber ihre Botschaft trägt auch sie tief in sich: Eine schöne Frau hat Bedeutung. Eine schöne Frau wird geliebt. Um eine schöne Frau kämpfen die Männer. Deshalb arbeiten Millionen Frauen bis heute mit allen Mitteln daran, schön zu werden oder schön zu bleiben. Obwohl sie wissen, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Denn die Schönheit hat einen hässlichen, welken Bruder: den Verlust. Und der bleibt immer Sieger, zuletzt.
Im Grimmschen Märchen Schneewittchen versucht die böse Königin, ihre jugendliche Konkurrentin zu liquidieren – um dem eigenen Niedergang nicht ins Auge blicken zu müssen.